Sorgen eines Landpfarrers im Rheinland: Bundesweite Resonanz auf Schirpenbach-Brief

05.12.2020

Dr. Meik Schirpenbach, leitender Pfarrer im Sendungsraum Grevenbroich/Rommerskirchen, bekommt bundesweite Resonanz auf seinen Brief mit dem Titel „Fragen an meine Kirche – Sorgen eines Landpfarrers im Rheinland“. Er hat das Schreiben ins Internet gestellt und selbst Reaktionen aus Bayern und Berlin erhalten. „Bislang kam keine negative Stimme. Viele Menschen sagen mir, dass das endlich mal ausgesprochen werden musste“, so Schirpenbach. Sein Text im Wortlaut:

„Ich bin ratlos. Ich bin Pastor auf dem Lande, in 21 Pfarreien, und übe meinen Dienst mit Freude aus. Ich liebe meine Kirche und vor allem die Botschaft, für die sie einsteht. Was sich jedoch im Moment in Teilen unserer Kirchenleitung abspielt, kann ich den Menschen, die mich fragen, nicht mehr erklären. Ich habe versprochen, von meiner Herde, meinen Pfarreien Schaden abzuhalten, aber wie soll ich sie in der jetzigen Situation schützen, wo das Problem mitten aus der Kirche kommt? 

Was unsere Leute in diesen Tagen nicht mehr verstehen, ist der Umgang in unserem Bistum mit den Missbrauchsvergehen: warum da was jetzt nicht veröffentlicht werden kann. Ich hatte noch versucht, das zu verstehen und zu erklären – doch was inzwischen hier draußen ankommt, ist, dass sich hohe Amtsträger hinter den Kulissen streiten, wer denn nun Verantwortung übernehmen soll. Stimmt es, dass da jetzt schon Anwälte im Spiel sind? 

Ich erfahre, dass Mitglieder im Betroffenenbeirat sich ausgenutzt, irregeleitet und belogen, ja zum zweiten Mal missbraucht vorkommen. Es gibt Retraumatisierungen, weil durch diese Umstände alles Erlittene wieder hochkommt. Nimmt man wahr, was man den Missbrauchsopfern antut? Reicht die Tatsache nicht, dass sie das so fühlen? Im Evangelium… spricht Jesus davon, dass das, was wir dem geringsten seiner Schwestern und Brüder antun, ihm antun. Die Missbrauchsopfer sind anwesender Christus in unserer Kirche. Wird hier Jesus Christus aus der Kirche rausgedrängt, weil er lästig ist? Würde sich jemand trauen, unser Allerheiligstes aus dem Tabernakel auf die Straße zu schütten? Christus ist im leidenden Menschen genauso anwesend wie in der Eucharistie: So habe ich es von der Heiligen Elisabeth von Thüringen und der Heiligen Juliane von Lüttich, der Erfinderin des Fronleichnamsfestes, gelernt. 

Das Vertrauen in weite Teile der Kirchenleitung ist auch bei den treuesten Kirchgängern zutiefst erschüttert. In diese substanzielle Krise hinein soll im Zuge des pastoralen Zukunftsweges unseren Pfarreien ein Umbruch abverlangt werden, der auf Jahre Kräfte binden und Konflikte herbeiführen wird, indem sie zu einer Großpfarrei fusioniert werden müssen. Unsere Leute fragen: warum? Wir haben doch viele gut funktionierende Kirchenvorstände. Warum etwas funktionierendes zerschlagen?

Sicher sind in den Plänen auch viele gute und zukunftweisende Ideen. Aber nach den Informationsveranstaltungen, wo uns ein idealisierter Film präsentiert wurde, sagten die meisten nur: „Wir glauben und vertrauen denen in Köln nicht mehr.“ Weiß man dort, was das bedeutet? Wer soll die Konflikte hier ausbaden? Was ist, wenn kaum einer mehr für die neuen Kirchenvorstände im kommenden Jahr kandidiert? Da kenne ich schon die Antwort aus Köln: „Sie sind der Pfarrer! Darum müssen Sie sich kümmern.“

Warum fehlt bei aller Schau in die Zukunft der Ansatz bei der Gegenwart, beim Gespür des Gottesvolkes? Warum wird das, was heute in der Kirche lebt, kleingeredet? Zu wenig Glaube? Wer kann das überhaupt bestimmen? Stimmt es, dass ein hoher Amtsträger unseres Bistums verkündet, dass das, was jetzt ansteht, die größte Veränderung der Kirchenstrukturen seit Napoleon sei? Damals wurde ein Landpfarrer Bischof, Marc-Antoine Berdolet, der jede Gemeinde persönlich besuchte, zuhörte und dann das veränderte, was notwendig war. Muss die Bistumsleitung angesichts der Vertrauenskrise jetzt nicht umso mehr das Gespräch auf Augenhöhe suchen? Im kalten Verwaltungsdeutsch der Bistumsverwaltung werden die Gemeinden in Stadt und Land als „die Fläche“ bezeichnet. Verrät das eine Haltung, die sich selbst als den Mittelpunkt wähnt? Haben wir vor Ort keine Ahnung von der Sache?

Es gibt in der Bistumsverwaltung viele engagierte, kompetente und kooperative Fachleute, die es ernst nehmen, dass sie Dienstleister der Pfarreien sind, mit denen wir ausgezeichnet zusammenarbeiten, aber andere behandeln unsere Ehren- und Hauptamtler von oben herab und sprechen vom Geld des Bistums, bei dem sie überlegen müssten, was davon welcher Gemeinde zustehen könnte. Hat man vergessen, dass es unsere Gemeindemitglieder hier sind, – knapp 40.000 Katholikinnen und Katholiken – die die Kirchensteuer zahlen, die so die Bistumsverwaltung alimentieren, und dass meine Kolleginnen und Kollegen in der Seelsorge vor Ort diese Menschen bei der Stange halten?

Wieso will man in Köln allein über Geld bestimmen, das einem nicht gehört? Engagierte Christinnen und Christen hier sagen: Der Bistumsleitung gehe es um Geld und Macht, nicht ums Evangelium. Das sind keine nachgebeteten Floskeln. Muss einem solch eine Vermutung nicht an die Substanz gehen? Dass wir sparen müssen, weiß hier jeder. Leute auf dem Land sind pragmatisch. Aber wie soll ich vermitteln, dass möglicherweise zwei Millionen Euro als Finanzspritze für den Erhalt eines Altenheims bei uns gereicht hätten, während in Köln, wie ich höre, für eine neue Theologische Hochschule zweistellige Millionenbeträge bereitstünden?

Wir haben in Bonn eine ausgezeichnete Fakultät, die vom Land finanziert wird. Braucht es jetzt nicht gerade finanzielle Zeichensetzungen im sozialen Bereich, um etwas Glaubwürdigkeit wieder zu gewinnen? Nimmt man in Kauf, dass viele Engagierte sich stillschweigend abwenden? Oder sind das Christinnen und Christen, die sowieso nicht gut genug waren? So denken Leute, die sich für bessere Christen halten.

Wo bleibt die Verantwortung eines Hirten? Wir Pfarrer sollen die Gespräche mit den Ausgetretenen führen, aber was sollen wir denn zu Dingen sagen, für die wir nichts können? Ich möchte als Priester nicht in Sippenhaft genommen werden, weder für Mitbrüder, die Missbrauch begangen haben noch für Versagen in der Kirchenleitung. Ich sehe die Gefahr, dass unsere Kirche über Jahre weiter nur mit sich selbst beschäftigt sein wird. Ist es nicht die Sorge um die Institution, die zur Vertuschung geführt hat? Brauchen wir nicht die schonungslose Erschütterung, damit aus Trümmern Neues wachsen kann? Haben wir überhaupt noch eine missionarische Kraft?

Die aktuellen Skandale gehen an die Glaubenssubstanz. Ich höre Vorwürfe wie „Glaubenszerstörer“, oder dass die Kirche vor die Wand gefahren werde und sie nur noch eine Karikatur ihrer selbst sei. Das höre ich von Menschen, die glauben möchten. Ich hätte es nicht gedacht, aber die Person eines Amtsträgers kann da viel aufbauen und zerstören. Glaube ist etwas sehr Sensibles. Der Kern unserer Botschaft ist verstellt, weil wir in der Kirche nicht als Auferstandene leben, sondern Angst um uns selbst, um Formen und hierarchische Strukturen haben. Das heraufziehende Unwetter wird schon zeigen, was stabil ist und was nicht. Dabei werden unsere Kirche und ihre Botschaft mehr gebraucht denn je, weil immer mehr Menschen in unserem Zusammenleben auf der Strecke bleiben. 

Was ist allein mit der Herausforderung durch den Klimawandel? Da haben wir doch Lösungswege! Papst Franziskus hat das alles längst auf den Punkt gebracht. In der Flüchtlingskrise 2015 war ich stolz auf die Zeichen, die unsere Kirche setzte. Ist es nicht allein eine Zivilisation der göttlichen Liebe, mit der das Leben auf unserem Planeten eine Zukunft hat? Aber unsere Sprachrohre sind verstopft mit einem tödlichen Mix aus Skandalen, Selbstgerechtigkeit und dem Beharren auf Nebensächlichkeiten. Wer sucht noch Lösungswege für die Menschheitsprobleme bei unserer Botschaft? Wer erwartet von der Kirche noch etwas?

Ich sehe ein reiches Erbe in unserem Lande, das aufs Spiel gesetzt wird. Als Mensch, der zutiefst in der Kultur unseres Landes verwurzelt ist, tut mir das weh. Dabei ist darin so viel geistiger Reichtum und so viel Kreativität verborgen. Aber selbst unsere Kirchengebäude, auf die wir gerade im Rheinland so stolz sein können, werden von Kirchenverantwortlichen nur noch als Ballast empfunden. Fängt man an, unser Erbe zu verschleudern, um Nebensächliches um jeden Preis zu erhalten? Ist da nicht längt ein versteckter Selbsthass am Werk? Warum sagen mir Menschen, dass sie sich um mich sorgen, dass ich Konsequenzen fürchten müsste, wenn ich solche Fragen stelle?

Warum haben sie den Eindruck, dass unsere Kirche in Bezug auf den Klerus ein System von Befehl und Gehorsam sei, von unbedingter Loyalität und totaler Identifikation, Macht und Abhängigkeit, das keine Nestbeschmutzer dulde? Erschreckt es nicht zu Tode, dass wir mit solchen Kategorien in Verbindung gebracht werden? Viele unterstellen uns einen Korpsgeist, aus dem heraus der Schutz der eigenen Gruppe wichtiger war als das Leid der Missbrauchsopfer. Warum wird immer nur davon gesprochen, dass es einzelne sind, die Fehler machen, dabei wissen wir doch als Theologen und Menschenkenner, für die wir uns halten, dass es sündige Strukturen gibt, die das befördern?

Ich bin nur ein Pfarrer vom Lande, vom Rande, kurz vor dem Abgrund am Tagebau. Vielleicht fehlt mir einfach der weltkirchliche Weitblick oder der theologische Tiefgang, sodass ich letztlich alles falsch sehe. Ich bete viel, aber auf meine Fragen finde ich im Gebet keine Antwort. Es bleibt die Ratlosigkeit. In der Frage steckt allerdings eine Kraft, die die Antwort nicht immer hat. Deshalb möchte ich zuletzt auch unsere Gemeinden, die einzelnen Christinnen und Christenetwas fragen: Wollt Ihr Euch das kaputtmachen lassen, was euch wertvoll ist? Wollt ihr die Kirche nur denen überlassen, die sie vor die Wand zu fahren drohen? Ist euer Glaube nicht viel stärker als der Kleinmut vieler kirchlicher Verantwortungsträger – weil Ihr Fragende und Suchende seid, Pilgernde auf rauen Wegen, engagiert für das Unmittelbare, für unsere Orte, die allesamt Gottesorte sind?

Ist euch die Botschaft des Evangeliums nicht zu kraftvoll, als dass Kleingeister und Angsthasen sie ersticken könnten? Sind wir nicht zu katholisch, das heißt allgemein, voll Weltverantwortung, als dass wir uns herausdrängen lassen? Ahnt Ihr nicht, dass unsere Zeit die Hoffnung des Evangeliums und den spirituellen Reichtum des Christentums nötiger braucht denn je? Haben wir Angst vor einem reinigenden Unwetter, dass die Turmspitzen hinwegfegen, die Grundmauern aber nicht erschüttern kann? Ist es vielleicht ein Fehler, dass wir Lösungen von der Kirchenleitung erwarten? Ich sehe keine Alternative, als dass wir hier vor Ort als Kirche weitermachen.“